Auf der vorherigen Seite haben wir gesehen, daß die angeblich fehlerhafte Inschrift in den Entlastungskammern der großen Pyramide korrekt geschrieben sind. Mir stellt sich die Frage, warum jemand überhaupt auf die Idee kommt, Howard Vyse der Fälschung zu bezichtigen.
Zecharia Sitchin klärt dazu auf: Vyse hatte einen ganz, ganz miesen Charakter. Daher sei ihm die Fälschung zuzutrauen. Vyse sei
"Das schwarze Schaf einer englischen aristokratischen Familie"[1 ]
Im weiteren Kontext lässt sich Sitchin über weitere Charakterschwächen des "von Ehrgeiz zerfressenen" Colonel Vyse aus.
In späteren Büchern anderer Autoren mutiert Vyse zum Monster, dem man so ziemlich jedes Verbrechen zutrauen würde. Meinen Recherchen zufolge basieren all diese Charakterbeschreibungen auf einem Buch des Wissenschaftsjournalisten Leonard Cottrell von 1953. Dieser befragte Nachfahren des Howard Vyse, so General Sir Richard Howard Vyse. Er fasst zusammen:
"Colonel Howard Vyse kam aus einer Militärfamilie... General Sir Richard Howard Vyse, Sohn des Colonel, sagte mir, dass der große Pyramidenforscher 'besser und interessierter in Archäologie gewesen sei als in militärischen Angelegenheiten, daher sei er eine Plage/Versuchung (trial) für die Familie gewesen".[2 ]
Das "schwarze Schaf" war er also, weil er sich nicht für militärische Dinge sondern für "alte Steine" interessierte. Und nicht weil er, wie Sitchin andeutet, ein Lügner, Spieler oder Betrüger war. Wie so oft ist es auch hier wichtig, den Kontext zu beachten!
Cottrell führt weiter aus:
"Seinen Schriften ist zu entnehmen, daß er ein kultivierter, aber etwas humorloser Mensch war. Verdächtigen gegenüber (er übte zu Hause das Amt eines "Sherrifs" in der heimatlichen Grafschaft aus, FD) verhielt er sich allerdings wie ein Zuchtmeister (martinet). ... Er war ein tief gläubiger Mensch, der auf die wortwörtliche Korrektheit der Bibel vertraute."[3 ]
Passagen seiner Bücher verraten auch eine tiefe Bewunderung, die er für die Erbauer der Pyramiden hegte.
Daraus macht bereits Peter Tompkins:
"Howard Vyse ... war ein Menschenschinder mit wenig Humor. ... Er war eine Plage für die Familie die froh war, ihn loszuwerden, obwohl es sie fast den ganzen Familienbesitz kostete. ..."[4 ]
Auf dieser Tompkins-Charakterisierung scheinen alle späteren Autoren aufzusetzen. Ein interessantes "Stille Post"-Spiel. Cottrells Beschreibung, der immerhin direkte verwandte Vyses interviewte, lassen aber keinen der Vyse vorgeworfenen Charaktermängel erkennen.
Kommen wir aber zum eigentlichen Thema dieser Seite zurück. Es gibt laut Sitchin noch einen weiteren Beweis für eine Fälschung. Eine Expertise des damals größten Kenners für ägyptische Hieroglyphen, Samuel Birch. Dieser habe sich die Ergebnisse Vyses genau angesehen und erhebliche Zweifel an ihrer Echtheit gehabt. Denn Birch sei aufgefallen, daß die Zeichen in einer Schrift abgefasst worden sei, die zur Zeit Cheops noch überhaupt nicht verwendet wurde!
Dies versucht Sitchin zu beweisen[5 ].
Bei ihm klingt alles auch recht beeindruckend. Man fragt sich nach Lektüre der Passagen wirklich, wie auch nur ein ernstzunehmender Archäologe auf die Idee kommen könnte, daß Vyse die Zeichen tatsächlich ge- statt erfunden habe.
Sitchin beginnt seine Beweisführung so:
"Erst einmal war Birch unsicher in Bezug auf Orthographie und Darstellung der vielen Zeichen. 'Die Symbole oder Hieroglyphen, die der Behauer oder Steinmetz in Rot auf den Steinen in den Kammern der Großen Pyramide angebracht hat, sind anscheinend Steinbruchmarkierungen', schreibt er im ersten Absatz, dem sogleich die Bewertung folgt: 'Obwohl nicht sehr leserlich, da sie in semi-hieratischen oder linear-hieroglyphischen Buchstaben geschrieben sind, weisen sie einige recht interessante Punkte auf...'
Birch verwirrte es, daß die Zeichen, die angeblich vom Beginn der vierten Dynastie datierten, in einer Schrift angehörten, die erst Jahrhunderte später aufkam. [...] Die von Vyse entdeckten hieroglyphischen Symbole gehörten also einer anderen Periode an."[6 ]
Die Birch-Expertise ist in zwei Veröffentlichungen publiziert worden. In Perrings "The Pyramids of Gizeh" von 1839 - und in Vyses Buch "Operations carried on..." selbst! Hätte Vyse eine Expertise veröffentlicht, die ihn als Fälscher entlarvt? Wohl kaum.
Ausschließen kann man es natürlich nicht, daher habe ich mir die Expertise sehr sorgfältig durchgelesen. Mehrfach. Doch wie genau ich auch hinschaute, ich konnte kein Wort der Verwirrung über das Alter der Schriften bei Birch finden. Schauen Sie selbst, klicken Sie einfach auf einee der beiden Seiten der Expertise aus Perrings Buch:
Sitchin verdreht hier einfach den Zusammenhang, denn Birch findet nicht die Schriftart "interessant", sondern die Tatsache, dass es zwei Kartuschennamen gibt. Mit keiner Silbe erwähnt Birch ein divergierendes Alter der Schriften! Eine glatte Lüge also.
Fig. 2 - Hieratisch beschrifteter Tonzylinder |
Dass sich Birch über das Alter der Schrift wundert scheint eine reine Erfindung Sitchins zu sein. Kein Wunder, Birch hatte überhaupt keine Veranlassung, sich über die Schriftart zu wundern.
Zwar gab es die voll ausgebildete hieratische Schrift tatsächlich erst etliche Jahre nach Cheops, nur sind die Inschriften in der Pyramide noch nicht vollhieratisch geschrieben, sondern in der linearen, semi-hireatischen Schrift - wie Birch es selbst in der von Sitchin ausgeschlachteten Expertise sagt. Und diese Schrift gab es seit Anbeginn der ägyptischen Schrift parallel zu den Hieroglyphen. Nebenstehend ist zum Beispiel ein hieratisch beschrifteter Tonzylinder aus einer Zeit 200 Jahre vor Cheops zu sehen!
Zum Verständnis: Genauso wie wir verwendeten auch die Ägypter zwei unterschiedliche Schriftarten: Druck- und Schreibschrift. Die "Druckschrift" waren die Hieroglyphen. Sorgfältig ausgearbeitet und den Vorbildern aus dem Tier- und Pflanzenreich nachempfunden. Die Schreibschrift (allgemein als "kursive Schrift" bezeichnet) hingegen verwendet abstrahierte Zeichen, einen wesentlich reduzierten Zeichensatz und eine andere Schreibrichtung. Sie ist mehr dem Pinsel als dem Meißel angepasst. Bei der Ägyptologieprofessorin Maria Carmela Betro kann man dazu lesen:
"Wenn die Hieroglyphe bis ans Ende ihrer Tage ihre expressive malerische Natur bewahren konnte, so ist dies der Tatsache zu verdanken, daß die Schreiber fast zeitgleich mit ihrer Entstehung ein kursives System für die schriftliche Fixierung der Sprache entwickelten, das viel rascher und praktischer zu handhaben war als die wunderschöne, aber mit viel Arbeit verbundene Hieroglyphenschrift. Diese Schrift nennen die Ägyptologen Hieratisch (vom griechischen hieratikos "priesterlich") ...
Schon sehr früh finden sich halbkursive (semi-hieratisch, FD) Formen der Hieroglyphe, wie beispielsweise die mit Tinte gemalte Inschrift auf einem Gefäß des prädynastischen Königs Ka zeigt. ..."[7 ]
Die Ägyptologin Adelheid Schlott hat sich ebenfalls ausführlich mit der Thematik auseinandergesetzt. In ihrem Buch Schrift und Schreiber im alten Ägypten, bildet sie die folgende Gegenüberstellung von Hieroglyphen, frühen (3. Dynastie) und späten (5. Dynastie) hieratischen Zeichen ab[8 ]:
Vergleichen Sie einfach mal die Schriftzeichen auf den Tafeln eine Seite vorher: Der Stil entspricht dem der hier als "3. Dynastie" gekennzeichnet ist. Speziell die Wachtel (unterste Hieroglyphe links) entspricht eindeutig den Zeichen in der Entlastungskammer.
Nicht nur, daß die von Sitchin strapazierte "Verwunderung" Birchs nicht in der Expertise steht, auch die übrigen Ausführungen Sitchins zum Thema Schrift sind frei erfunden!
Auch diese seien Birch aufgefallen. So schreibt Sitchin[9 ]:
"Die Hieroglyphen, die der Kartusche in derselben linearen Schrift folgten, deutete Birch als einen Königstitel wie etwa "mächtiger in Ober- und Unterägypten". Die einzige Gleichheit mit dieser Zeile konnte er 'in einem Titel finden, der auf dem Sarg der Gemahlin von Amasis steht' - aus der saitischen Zeit. Er hielt es nicht für nötig, darauf aufmerksam zu machen, daß der Pharao Amasis ... im sechsten Jahrhundert v. Chr. regiert hat - über 2000 Jahre nach Chufu."
Das ist eine glatte Lüge, wie sie in der oben angelinkten Expertise selbst nachlesen können. Auf Seite 2, zweiter Absatz vermerkt Birch:
"Derselbe Titel erscheint auf einem Sarg einer Königin des Amasis ... Diese Zeichen sind eigentümlich/speziell für diese Periode, und auch für die Ära der Saiten, die viele der alten Pronomen, Titel und Ämter dieser Zeit (der 4. Dynastie, FD) wiederbelebte."
Birch sagt mit keinem Wort, daß "die einzige Gleichheit" auf dem Amasis-Sarg gefunden wurde. Dies ist eine unzulässige Interpretation Sitchins. Zudem schreibt Birch explizit, dass diese Titel spezifisch für die 4. Dynastie sind, und daß die Saiten diese Titel wiederbelebten. Er erklärt also den Zusammenhang. Daß Birch "es nicht für nötig hält" die Existenz des Titels zu erklären ist definitiv falsch.
Birchs Erklärung zu den Saiten stimmt. Viele Funde aus dieser Zeit belegen, daß diese Neuzeitherrscher, die als erste Ägypter nach einer mehrhundertjährigen Spanne von Fremdherrschern und Invasoren wieder das Land in die "eigenen Hände" nahmen, die Glorie des alten Ägypten wieder aufleben lassen wollten, und sich daher wieder auf alte Traditionen beriefen. So führten sie nach 2000 jähriger Pause auch wieder die Tempeldienste für die Pharaonen der 4. Dynastie ein.
Sitchin behauptet aber noch mehr[10 ]:
"Rätselhaft fand Birch auch eine 'merkwürdige Sequenz von Symbolen' in der obersten Kammer ... Hier wurde die Hieroglyphe für "gut, gnädig" als Ziffer verwendet - eine Anwendung die man weder vorher noch nachher jemals gefunden hat. Diesen ungewöhnlich geschriebenen Ziffern legte man die Bedeutung 'achzehntes Jahr' (von Chufu's Regierungszeit) bei.
Heftig. Wie schon bei der Isis-Stele dreht Sitchin einfach die Bedeutung eines Begriffs um. "cypher" bedeutet sowohl Ziffer als auch Chiffre. Und aus dem Kontext bei Birch (letzter Absatz) geht klar hervor, dass Birch letztere Bedeutung meint. Zudem kann man im Ägyptischen nicht einfach eine Hieroglyphe als Zahl verwenden, da Zahl- und Schriftzeichen völlig unterschiedliche Symbole sind. Genauso wie bei uns.
Zudem taucht Sitchins Regierungsjahr-Behauptung nicht auf, im Gegenteil: Birch interpretiert die Ziffern hinter der Glyphe als Durchnummerierung der Blöcke, und die beiden vorangestellten Hieroglyphen als Kennzeichnung für "Nord" und "Süd", da sich "Nofre"-Blöcke nur auf der Nord- und "Gom"-Blöcke lediglich auf der Südseite der Kammer gefunden wurde. Eine Auffassung, die inzwischen auch bestätigt wurde.
Die ganze Geschichte wurde von Sitchin aus den Fingern gesogen!
Als letzten Beleg der Sitchinschen Quellenfälschung (nichts anderes ist es) möchte ich nun noch die Mär mit den zwei Königen zum Besten geben. Denn laut Sitchin[11 ] sei Birch's Expertise eingeschlagen "wie eine Bombe". Denn Birch habe zwei Königsnamen, nicht einen gefunden. Und:
"Zu dem Versuch, die Namensbedeutung des Widdersymbols zu analysieren, vermerkte Birch: 'Eine Kartusche, ähnlich derjenigen in Wellingtons Kammer, ist von Wilkinson als unidentifizierter König veröffentlicht worden ... der die phonetischen Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, als "Seneschufo" liest, welcher Name nach Wilkinson "Bruder des Suphis" bedeutet.
Die Passage steht im 3. Paragraph der ersten Birch-Seite, und wie Sie sehen können, hat Sitchin die Quelle ohne Kenntlichmachung durch Kürzungen leicht verfälscht.
Im Anschluss sinniert Sitchin zwei Seiten über die Bedeutung dieses Fundes und der Beweiskräftigkeit für seine Fälscherthese. Unterschlägt aber, dass Birch direkt auf die von Sitchin zitierte Passage fortfährt:
"Ohne eine Diskussion über die Silbe "Sen" anzufangen ... sei bemerkt, dass die Lesung "Seneschufo" falsch ist und auf einem Fehler des Übersetzers (Wilkinson) beruht, der danach durch ein Fehlen einer korrekten Übersetzung von anderen Autoren einfach abgeschrieben wurde."
Hm, diese Technik kenne ich irgendwoher :-)
Birch schreibt in seinem Aufsatz also das genaue Gegenteil von dem was Sitchin behauptet! Sitchin macht aus einem "falsch" ein "richtig". Im übrigen fährt Birch damit fort zu erklären, daß es sich bei diesen Zeichen um normale Pronome handelt, die in die Kartusche hineingezogen wurden. Ein Vorgang, der inzwischen vielhundertfach belegt ist und auch schon Birch bekannt war - er nennt diese Technik explizit in seinem Aufsatz!
Einen ausführlichen Textvergleich in englisch gab es auf der inzwischen gelöschten Seite von Martin Stower, aber eine von mir angefertigte deutsche Version finden Sie in meinem Buch "Pyramidengeheimnisse?". Als Fazit lässt sich aber feststellen, dass Sitchin die Quelle auf das übelste verfälscht hat. Wie schon bei der Angelegenheit des Schreibfehlers lässt sich feststellen: Der Fälscher heißt nicht Vyse sondern Sitchin!
Anmerkungen: | ||
[1 ] | Sitchin, Stufen, S. 292 | |
[2 ] | Cottrell, Leonard; Mountains of the Pharaos, S. 128 | |
[3 ] | ibd. | |
[4 ] | Tompkins, Peter; Secrets of the Great Pyramid, S. 59 | |
[5 ] | Sitchin, Stufen S. 298 ff. | |
[6 ] | ibd. | |
[7 ] | Betro, Maria Carmela; Heilige Zeichen, S. 29 ff | |
[8 ] | Schlott, Adelheid; Schrift und Schreiber im alten Ägypten, S. 78 | |
[9 ] | Sitchin, Stufen S. 299 | |
[10 ] | ibd. | |
[11 ] | ibd. S. 300 f |